Am 13. Juni 2022 hat ein zweites Gespräch des Churer Priesterkreises mit Bischof Joseph Bonnemain betreffend den „Verhaltenskodex“ (VK) stattgefunden. Danach hat er sich mit einem Schreiben vom 15. Juni 2022 an alle Priester, Diakone und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neuerlich zum VK geäussert, nachdem er bereits in der NZZ am Sonntag vom 12. Juni 2022 auf das Thema zurückgekommen ist.
Aufgrund dieser Äusserungen und der Stellungnahmen anderer involvierter Personen und Gremien ist Verwirrung entstanden, so dass man nicht mehr weiss, was nun gilt und was geschehen soll. Es geht um drei Themen:
1. Verbindlichkeit des VK
Im Interview mit der NZZaS vom 12. Juni 2022 hat der Bischof festgehalten, „dass der Text kein bischöflicher Erlass ist“. Er ist somit nicht verbindlich. Im Begleitschreiben vom 5. April 2022, das der Bischof zusammen mit den Generalvikaren und den Präsidenten der staatskirchenrechtlichen Körperschaften unterzeichnet und allen Priestern, Diakonen und kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bistum zugestellt hat, heisst es jedoch: „Dieser [der Verhaltenskodex] wurde im Jahr 2021 von den Präventionsbeauftragten Stefan Loppacher und Karin lten in einem partizipativen Prozess mit der Basis entwickelt, breit abgestützt und wird ab Mitte Jahr 2022 für alle Führungspersonen und Angestellten verbindlich.“ Im „Echo der Zeit“ vom 29. April 2022 sagte die Moderatorin: „An der Medienkonferenz zum Verhaltenskodex [5. April 2022] sprach er [der Bischof] von einer ‚Schulung‘ für jene, die Mühe hätten mit den neuen Regeln.“ Sodann folgt im Originalton der Bischof: „Wenn das nicht fruchtet, muss man weitere Massnahmen bestimmen, z.B. dass diese Person eine Supervision wahrnimmt, unter Umständen eine psychotherapeutische Begleitung. Wenn das auch nicht hilft, muss man am Schluss sich von einem solchen Mitarbeitenden trennen.“
Die Unklarheit über die Verbindlichkeit des VK wird noch grösser, wenn man die Aussage des Bischofs im Interview mit der NZZaS vom 12. Juni 2022 hinzunimmt: „Ich habe ihn unterzeichnet, weil ich mich an ihn halten werde.“ Damit hat sich der Bischof auch zum Punkt 4.b. des VK (Qualitätsstandards im Alltag der Machtposition, S. 12) verpflichtet, wo es heisst: „Ich übe keinen vermessenen Erwartungsdruck durch Elitedenken aus (z.B. Überhöhung der eigenen Gemeinde oder Gemeinschaft) und fordere weder Gehorsam noch Unterwerfung ein.“ Wie kann etwas vom Bischof zusammen mit den Körperschaften für verbindlich erklärt werden, wenn es gleichzeitig kein bischöflicher Erlass ist und der Bischof zudem erklärt, keinen Gehorsam mehr fordern zu wollen?
2. Übereinstimmung des VK mit der Glaubenslehre der Kirche
Bischof Bonnemain hat mehrfach betont, dass der VK sich in Übereinstimmung mit der Glaubenslehre der Kirche interpretieren lasse. Die Co-Verfasserin des VK, Karin Iten, hat jedoch in einem Beitrag auf kath.ch vom 30. April 2022 erklärt: „Die aktuelle kirchliche Sexualmoral des Lehramts ist nicht in Stein gemeisselt und war es nie. Sie ist im Vergleich der Menschheitsgeschichte ein neueres kulturelles Produkt, neuer auch kirchengeschichtlich gesehen. Somit kann sie sich auch heute verändern. Vielen Dank also, Churer Priesterkreis, dass ihr öffentlich auf diese Diskrepanz und den Reformbedarf der katholischen Sexualmoral des Lehramts aufmerksam macht!“ In gleichem Sinn heisst es im Intranet der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich (wiedergegeben von kath.ch am 7. Mai 2022), dass die lehramtlichen Aussagen der Kirche „tatsächlich als widersprüchlich zu Aussagen des VK gelesen werden können“. Die Präsidentin des Synodalrats der Römisch-katholischen Körperschaft des Kantons Zürich, Frau Franziska Driessen, ist zusammen mit dem Bischof Mitunterzeichnerin des erwähnten Schreibens vom 5. April 2022 an die Priester, Diakone und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bistums. Sie hat im Kontext der Diskussionen um den VK auf kath.ch vom 7. Mai 2022 zudem davon gesprochen, dass in einigen Punkten die traditionelle kirchliche Sexuallehre überwunden werden müsse. Wenn verschiedene Unterzeichner des gleichen Briefs den VK inhaltlich gegensätzlich interpretieren: Wie ist der VK dann zu verstehen? Und wer hat die Deutungshoheit über den VK? Auch in inhaltlicher Hinsicht wurde somit leider Verwirrung gestiftet.
3. Beratung über den VK
Der VK wurde vor seiner Unterzeichnung und Publikation weder dem Priesterrat noch dem Rat der Laientheologinnen, Laientheologen und Diakone noch dem Diözesanen Pastoralrat vorgelegt. Ob der Bischofsrat inhaltlich über den VK diskutieren konnte oder ob er vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, ist immer noch nicht klar.
In seinem Schreiben vom 15. Juni 2022 wünscht der Bischof nun zum VK, dass wir „uns gemeinsam darüber austauschen – auch über die strittigen Passagen. Dafür dienen die für die zweite Hälfte des Jahres vorgesehenen Einführungstreffen. Im Rahmen dieses Dialoges soll alles zur Sprache gebracht werden, damit ein besseres Verständnis des Verhaltenskodex erreicht werden kann. Der Priesterrat und der Rat der Religionspädagoginnen und Religionspädagogen, Theologinnen und Theologen und Ständigen Diakone werden ebenfalls die Möglichkeit haben, sich vertiefter mit dem Inhalt des Verhaltenskodex auseinanderzusetzen“. Mit diesen Aussagen ist impliziert, dass der VK inhaltlich nicht mehr zur Disposition steht.
Wie der VK als Dokument, das den offiziellen kirchlichen Beratungsgremien vorgängig nicht zur inhaltlichen Stellungnahme vorgelegt wurde, jetzt glaubwürdig von ihnen diskutiert werden soll, wenn er offenbar inhaltlich nicht mehr zur Disposition steht, ist nicht erkennbar. Wie ein solches Fait accompli mit der Synodalität, von der aktuell viel die Rede ist, vereinbar sein soll, ist vollends unklar.
Zusammenfassung
Angesichts der entstandenen Verwirrung fordern wir, bevor über den VK im Bistum diskutiert wird, dass der Bischof dessen Verbindlichkeit suspendiert und dass die Körperschaften ebenfalls erklären, dass der VK in der vorliegenden Fassung nicht verbindlich ist und weder arbeitsrechtlich noch im Hinblick auf Anstellungen angewendet wird, sondern lediglich als Diskussionsgrundlage dient. Denn sonst kann nicht glaubwürdig und fair darüber in den Dekanaten und in anderen Gesprächsgruppen diskutiert werden. Wenn nämlich der Text als unabänderlich gilt, dient eine Diskussion nur der Indoktrinierung, und das zu Themen, über deren Übereinstimmung mit der kirchlichen Lehre nicht einmal der Bischof und die Körperschaften bzw. die Co-Verfasserin sich einig sind. Was kann man für ein Ergebnis von den Gesprächen unter den Priestern, Diakonen und pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwarten über einen Text, dessen inhaltliche Bedeutung und dessen Verbindlichkeit selbst zwischen denen strittig sind, die ihn zusammen der Öffentlichkeit vorgestellt haben?
20. Juni 2022 Churer Priesterkreis
Sekretär: Kan., Pfr. Dr. Roland Graf
(für Anfragen: Tel. 055 414 11 16)